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Kritik an der Klassenkampf-Rhetorik
Aus 10 vor 10 vom 01.05.2024.
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Tag der Arbeit Der Kapitalismus steht in der Kritik – der grosse Aussagen-Check

Der Kampfbegriff brachte die Linke am Tag der Arbeit auf die Strasse. Der SGB-Chefökonom und Avenir-Suisse-Direktor ordnen ein.

«Kapitalismus macht krank»: Diesen Slogan hat das Organisationskomitee für den diesjährigen 1-Mai-Umzug in Zürich ausgerufen. Er steht stellvertretend für einen kritischen Blick auf Wirtschaft und Politik. Der Blick aufs Programm sowie Gespräche mit Teilnehmenden zeigen: Darüber, was der Kapitalismus ist, herrscht keine Einigkeit.

Der Direktor des liberalen Think Tanks Avenir Suisse, Jürg Müller, und der Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), Daniel Lampart, nehmen zu fünf Behauptungen stellvertretend Stellung.

Kapitalismus unterdrückt die Menschen

Jürg Müller (Avenir Suisse): «Ich würde sagen, unser Wirtschaftssystem stellt den selbstbestimmten Menschen ins Zentrum und ist eigentlich gerade das Gegenteil von Gesellschaften, die aufs Kollektiv setzen.» Diese neigten nämlich dazu, «in Korruption und Nepotismus abzurutschen und individuelle Freiheiten zu unterdrücken».

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Daniel Lampart: «Der Kapitalismus hat auch viel soziales Leid produziert»
Aus News-Clip vom 01.05.2024.
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Daniel Lampart (SGB): Im Kapitalismus können sehr wenige reich werden und Macht haben auf Kosten der Anderen, findet hingegen der Gewerkschaftsvertreter. «Das ist einer seiner grössten Missstände.»

Kapitalismus schadet Natur und Umwelt

Jürg Müller (Avenir Suisse): Ja, der technologische Fortschritt habe teilweise zu Umweltschäden geführt, sozialistische Staaten wie die Sowjetunion oder die DDR hätten aber schlechter abgeschnitten, findet Müller. «Gerade die Erfahrung aus dem 20.  Jahrhundert zeigt, dass freiheitliche, demokratische und marktwirtschaftliche Systeme wie die Schweiz mit diesen Herausforderungen viel besser umgegangen sind.»

Demonstranten mit Flaggen und Transparenten bei einer politischen Kundgebung.
Legende: Der Kapitalismus: Auch am diesjährigen 1. Mai stand er wieder im Fokus von Kritikerinnen und Kritikern. (Bild: Zürich, 01.05.24) KEYSTONE/Ennio Leanza

Daniel Lampart (SGB): Die Politik müsse handeln, der Kapitalismus verbrauche zu viele Ressourcen und fördere darum den Klimawandel, warnt der SGB-Chefökonom. «Man muss es dringend umbauen, bevor es ungemütlich wird.»

Kapitalismus befeuert die wirtschaftliche Ungleichheit

Jürg Müller (Avenir Suisse): Ganz im Gegenteil, findet der Direktor des liberalen Think Tanks: «Global hat die Ungleichheit in den letzten 100 Jahren stark abgenommen, in der Schweiz ist sie bei steigendem Medianeinkommen relativ stabil.»

Daniel Lampart (SGB): Mit der kapitalistischen Entwicklung sei auch die Ungleichheit gestiegen, findet hingegen Ökonom Lampart. «Gäbe es keine Gewerkschaften, wäre es dramatisch.»

«Was bedeutet Kapitalismus für Sie?» – Auszüge von der Strasse

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Stimmen von Teilnehmenden am Rande des 1.-Mai-Umzugs in Zürich:

  • «Kapitalismus bedeutet: Die obere Schicht bestimmt über alles und kann diktieren, wie die Gesellschaft funktionieren soll.» (J.S., Sozialarbeiter)
  • «Kapitalismus ist ein System, das Leute ausgrenzt.» (M.B., Kundenbegleiterin)
  • «Ich glaube, der Kapitalismus ist ein ganzes Gesellschaftssystem: Da geht es nicht nur um die Arbeit, sondern auch um die Verhältnisse zu der Natur oder wie die internationalen Beziehungen geregelt sind. Diese beruhen nämlich auf Ungleichheit und Macht.» (Philipp Schmid, Bewegung für Sozialismus)
  • «Kapitalismus ist für mich, wenn jeder nur an das eigene Befinden denkt und nicht solidarisch mit den anderen auch einmal auf etwas verzichtet.» (H.O., Hortleiterin)
  • «Kapitalismus ist die Wirtschaftsordnung, die wir haben. Wir könnten einen sozialen Kapitalismus daraus machen, bei dem alle ein gutes Leben leben können – jetzt zeigt sich aber eher ein Neokapitalismus für die Wenigen.» (Katharina Prelicz-Huber, Nationalrätin (Grüne/ZH))

Kapitalismus beflügelt den technischen Fortschritt

Daniel Lampart (SGB): Ja, der Kapitalismus habe gezeigt, dass er viel technologischen Fortschritt erzielen könne, findet der Gewerkschaftler. Das hätten aber auch andere Systeme. «Im Moment gibt es aber nur den Kapitalismus.»

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Avenir-Suisse-Direktor Müller: «Unsere Wirtschaftsordnung ist ein Erfolg»
Aus News-Clip vom 01.05.2024.
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Jürg Müller (Avenir Suisse): Seit die liberale Revolution dafür gesorgt habe, dass der Mensch ins Zentrum gerückt wurde, gehe es aufwärts, findet Müller. «Das ist am Schluss die Quelle von unserem Wohlstand, von einer höheren Lebenserwartung und auch von der immensen Reduktion der Armut.»

Kapitalismus ist ein Auslaufmodell

Daniel Lampart (SGB): Heute wisse man noch nicht einmal mehr, wer hinter den grössten Schweizer Unternehmen stehe, findet der Ökonom. Das zeige, dass der Kapitalismus nicht mehr bestehe. «Den Kapitalismus als solchen gibt es gar nicht mehr.»

Jürg Müller (Avenir Suisse): Der liberale Ökonom beobachtet aus seiner Sicht besorgniserregende Tendenzen: «Das Gesellschaftsmodell kommt von rechts und links unter Druck. Das bereitet mir persönliche Sorgen, weil ich glaube, es führt nicht in eine bessere Gesellschaft.»

Kapitalismen statt Kapitalismus – ein historischer Rückblick

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Ein Wort, viele Bedeutungen: So könnte man die Sichtweisen auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beschreiben. Während in Debatten oft der Eindruck eines ideologischen Monolithen entsteht, zeigt die Geschichte eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind diese denn auch unterschiedlich in Erscheinung getreten.

Liberalismus: Adam Smith legte im 18. Jahrhundert den ideologischen Grundstein für die freie Marktwirtschaft. Der schottische Denker prägte den Begriff einer «unsichtbaren Hand» – also des auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinenden Phänomens, wonach Menschen mit ihrem egoistisch getriebenen Handeln das Gemeinwohl fördern können.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich die freie Marktwirtschaft in allen Industriestaaten durch, zeigte aber auch ihre Schattenseiten mit starken sozialen Gefällen und einer Konzentration des Vermögens. In den angelsächsischen Ländern haben sich im Gegensatz zum Rest Europas Spuren dieser Tradition erhalten – etwa in der privaten Finanzierung der Hochschulbildung.

Marxismus: Viele Produktionsmittel befinden sich in den Händen weniger: Das kritisierte Karl Marx vor über 150 Jahren. Er prophezeite die Revolution der Arbeiterklasse und die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise.

Über die kommenden Jahrzehnte verbreitete sich die Ideologie und in der Sowjetunion und China entstand ein real existierender Marxismus, der allerdings auch mit absolutistischer Einparteienherrschaft, politischer Unterdrückung und dem Tod Unzähliger einherging. Traditionell kam es zu Abgrenzungen zwischen kommunistischen und sozialistischen Parteien; allerdings fordert etwa die SP bis heute in ihrem Parteiprogramm die Überwindung des Kapitalismus.

Die soziale Marktwirtschaft: Das deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit ging eng einher mit der Entwicklung dieses neuen Konzepts aus der politischen Mitte heraus. Eine blühende Wirtschaft müsse mit einem breit ausgebauten Sozialstaat einhergehen, postulierten ihre Förderer um den Vordenker Ludwig Erhard. In den USA gilt der «New Deal» von Präsident Franklin D. Roosevelt (1933–1945) als Vergleichsbeispiel.

Die Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft wollten die Vorteile der Marktwirtschaft nutzen und die Nachteile eines unkontrollierten Kapitalismus überwinden. Der Zugang zum Gesundheitswesen oder der Bildung etwa sollte öffentlich geregelt sein. Wo nötig muss der Staat eingreifen: etwa auch, wenn es um die Bekämpfung von Monopolen geht.

Libertarismus oder gar Anarcho-Kapitalismus: Ab den 1970er-Jahren stellte sich rund um die Denker der «Chicago School» abermals eine ideologische Gegenbewegung zum in vielen Industriestaaten geltenden Wirtschaftssystem ein. Staatliche Subventionen, festgelegte Preise und vor allem der gewachsene Sozialstaat sind darin Zeichen eines übereifrigen und ausufernden Staates. Anlehnend an die Ideen Adam Smiths fordern diese libertären Denker einen «Nachtwächter-Staat», der sich so weit wie möglich heraushält aus den Angelegenheiten seiner Bürgerinnen und Bürger.

Der schillernde neue argentinische Präsident Javier Milei gilt als neuer Vertreter dieser Denkschule. Symbolisch tritt er mit einer Kettensäge auf, mit der er den Staat zurechtstutzen will. Er selbst bezeichnet sich als «Anarchokapitalist».

(Quelle; BPB, SRF)

SRF 4 News, 01.05.2024, 11:00 Uhr

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